Karbushevka

Unsere Heimat 

Psalm 78,2.

„Ich will meinen Mund auftun zu Sprüchen
und alte Geschichten aussprechen, die wir gehöret
haben und wissen, und unsere Väter uns erzählet
haben, dass wir es nicht verhalten sollten ihren
Kindern, die hernach kommen...."



Korbushovka-Karbushovka-Karbyshevka-Karbushevka

 

So hatte man dieses Dorf im Laufe des Zwanzigsten Jahrhunderts genannt. In Mittelasien, tief in den Kasachischen Steppen am Rande des Gebirgewaldes Karkaraly, ließen sich ab 1870 immer wieder russische und ukrainische Siedler nieder. Koktass - so nannte man das Tal des kleines Flusses Sharly - war in der damaligen Zeit für das Leben im Winter eigentlich völlig ungeeignet. Bittere Kälte (oft unter vierzig Grad) sowie ständige Schneestürme waren in diesem Tal keine Seltenheit und machten das Leben dort hart. Im Sommer dagegen war es hier herrlich: Hohes Gras, in den Flüssen, unzähligen Teichen und kleinen Seen ein Reich mit Fischen, dazu viel Sonne - etwas Großartigeres konnten sich die Siedler für die Viehzucht nicht wünschen. Bei Wintereinbruch suchte man mit dem Vieh Schutz im Wald oder hohen Bergen. Einen Gewerbezweig gab es hier allerdings schon. An den Ufern des Flusses Sharly wuchs Purpurweide in großer Menge. Aus dieser Weide hatten die Siedler verschiedene Körbe geflochten. Das Wort "Korb" haben die Russen Anfang des 18. Jahrhunderts aus dem Deutschen übernommen. Auch heute findet man im Russischen hierfür nach wie vor das Wort "Korob". Die Erklärung, der Name des Dorfes könnte davon abgeleitet worden sein, ist also naheliegend: Korb - Korbuschovka, Karbuschovka.
Es gibt aber auch eine weitere Erklärung bezüglich des Dorfnamens: Etwa zehn Jahre später, nämlich 1885, bekam ein russischer Offizier a. D. namens Ivan Karbyschew jenes Gebiet/ Landstück für tadellosen Dienst in der zaristischer Armee. Ist es bloßer Zufall, dass sein Name dem Namen des Dorfes (so sehr) ähnelt? Die Nachkömmlinge von Ureinwohner behaupten jedoch, dass es den Dorfnamen bereits vor dem Offizier Ivan Karbyschew gab bzw. dieser verwendet wurde. Außerdem beschränkte sich Karbyschews Aufenthalt in Koktass nicht einmal auf ein ganzes Jahr – er übernahm die Aufsicht über Karasorsee, etwa 35 Kilometer von Koktass gelegen.
Sowohl  zwischen den regionalen Forschern als auch zwischen den Beamten gab es ständig rege Diskussionen über den Namen des Dorfes; das führte sogar so weit, dass dreimal ein anderes Ortschild angebracht wurde. Zuletzt bezeichnete man das Dorf „Karbushevka“ – so jedenfalls wird es in nationaler und internationaler Kartografie bezeichnet. Heutzutage spricht aber alles für den ursprünglichen Namen „Koktass“.
Die Ansiedlung von überwiegend Ukrainern und einigen russischen Familien erwies sich als schwierig. Die Einheimischen, damals Kirgisen genannt, leisteten gegen die Fremden heftigen Widerstand, dass sogar die kirgisischen und zaristischen Beamten sich zusammenschlossen und mehrmals als Schlichter auftraten bzw. eingreifen mussten. Jahrhundertslang galt Koktass den Kirgisen als perfekte Viehweide; und bekanntlich lebten damals die Nomaden ausschließlich von Viehzucht. Letztendlich ließen sich die Ankömmlinge in umliegenden Dörfern nieder und das Tal wurde den Kirgisen überlassen. Die hartnäckigsten Leute bzw. diejenigen die mit den Einheimischen gut zurechtkamen, sind in dem Tal geblieben, wie beispielsweise die Familien Jeskov, Wosnuk, Sidenko, Balenko. Einige derer Nachkömmlinge sind sogar nach Deutschland ausgewandert, einige wohnen heute noch dort.
Nach und nach begannen die Siedler in dem Tal auch mit dem Getreideanbau. Dies wiederum verlangte Sesshaftigkeit und das bedeutete, dass man nicht nur für sich selbst, sondern auch für das Vieh Gebäude errichten musste. Also baute man primitive Häuser, so genannte Samanhäuser, denn das Material hierzu waren Samansteine (heißt Lehmsteine). Die Herstellung von Saman gestaltete sich äußerst schwierig und außerdem aufwendig; Hier mussten in der Regel auch Kinder helfen. Saman ist ein Gemisch aus Lehm und Heu bzw. Stroh. Dieser „Lehmbatzen“ wurde rechteckig geformt und sofort in die Sonne zum trocknen gelegt. Auf das Fundament aus Felssteinen mauerte man die Samans, wobei als Verbindungsmaterial für das Fundament wie auch für die Wände schlicht der Lehm diente. Überdacht (flaches Dach) wurde das  Samanhaus mit Schilf oder Karagan. Karaganbüsche waren übrigens auch hier damals in großen Mengen überall zu finden. Das Fundament, die Wände und die Decke verputzte man außen wie innen wiederum mit Lehmgemisch. Genau auf diese Weise wurden auch der Herd und Kamin errichtet. Bretter, wenn es überhaupt welche gab, verwendete man ausschließlich für die Tür. Als Fenster dienten kleine Öffnungen, abgedichtet mit Tierhaut oder Glimmerfolie. Auf den Erdboden legte man Wermut oder Heu - und das Haus war fertig. Geheizt wurde das Haus mit getrocknetem Kuhmist, den man im Sommer als Vorrat sammelte und im Inneren für den ganzen Winter trocken lagern musste. An das Haus wurde auch die Wirtschaft angebaut, und zwar so, dass sie vom Hause aus zugänglich war, denn es gab damals allzu oft so viel Schnee, dass von dem ganzen Dorf nur die Schornsteine zu sehen waren. Tunnel mussten gegraben werden, die die einzige Verbindung zur jeweiligen Nachbarschaft darstellten. Die Wirtschaft bestand aus einem Stall und einer Speicherkammer für Kartoffeln, Getreide, eingemachtes Gemüse und Brennmaterial. In jedem Haus gab es einen etwa zwei Meter tiefen Brunnen, und zwar entweder im Stall oder in der Speicherkammer. Das Heu lagerte man vor Wintereinbruch auf dem Stalldach – hier war es wenigstens frei von bzw. geschützt vor Schnee und Nässe. In jenem Dorf gab es auch ein einziges Holzhaus. Dieses wurde Ende des 19. Jahrhunderts von Familie Balenko errichtet. Nach seiner Ermordung durch Kommunisten im 1922 wurde das Haus enteignet und bis 1956 diente es als Verwaltungsgebäude. (von 1941 bis 1956 als Kommandantur) 1964 wurde das „Dorfmerkmal“ abgerissen.
Die Jahre 1917 bis 1925 bedeuteten – wie auch anderswo – keine guten für das Tal. Die Bolschewiken (sprich Kommunisten) vernichteten Wohlstand und Intelligenz. Besonders hart hatte es die Kirgisen getroffen – viele von ihnen wurden in die Mongolei verjagt, eine große Anzahl wurde erbarmungslos ermordet. Die Kirgisen waren vollkommen entmachtet, was eigentlich bedeutete, dass die Kolonialisierung von den Russen endgültig vollzogen wurde. Ab diesen Zeitpunkt begannen die Russen damit die Nomaden gewaltsam sesshaft zu machen. Dort wo lediglich ein paar Häuschen von Ukrainern standen, wurde intensiv gebaut. Schon nach ein paar Jahren konnte man die Konturen einer Straße erkennen – verstreut in zwei Reihen von Samanhäusern bildeten von Osten nach Westen gezogen eine breite Straße von etwa einem Kilometer Länge. Vorerst baute eine Familie ein, zwei Zimmer, die nächste – um Arbeit und Kosten zu sparen – fügte ebenfalls ein, zwei Zimmer an, die dritte Familie machte es ebenso usw., so dass letztendlich ein Haus mit 15-20 Kammern und 8 bis 10 Eingängen entstand. Auf diese Weise wuchs ein Dorf ohne Namen heran, besser gesagt es bildeten sich zwei Namen heraus: Koktass (aus kasachisch „Blauer Stein“) unter den Kirgisen und Korbuschovka unter Ukrainern und Russen. Die Kirgisen, später Kasachen genannt, beschäftigten sich ausschließlich mit Viehzucht (vor allem Pferde und Schafe), Die Ukrainer mit Landwirtschaft, Fischen, Viehzucht (in erster Linie Kühe, Schweine); im Winter wurden Körbe und Netze geflochten. Merkwürdig ist hierbei jedoch die Tatsache, dass in den mehr als Hundert Jahren Kolonisierung die Kasachen die Landwirtschaft nie richtig kennen und lieben gelernt haben. Bis heute sind sie der Viehzucht noch erstaunlich treu. Wenn ein in dritter Generation in der Stadt geborener Kasache aufs Land kommt und ein gutes Ross streichelt, pflegt oder reitet, verwandelt sich diese Person völlig – übergroße Freude, großes Geschick im Umgang mit Pferden, das Kennen und Können – solcher Dinge kennzeichnet jene Nation.
Wer weiß wie sich dieses Dorf weiterentwickelt hätte, wenn nicht ein Umbruch stattgefunden hat. Wer hatte schon ernsthaft daran gedacht, dass in der Geschichte des Dorfes eine Wende auftreten würde, die diese Gegend total veränderte und innerhalb eines gewissen Zeitraums das Dorf im Umkreis von hunderten Kilometern bekannt machte...?! Hier entstand eine deutsche Kolonie.
Es war Ende November 1941, als sich ein Konvoi aus Schlitten mit Ochsengespannen langsam durch einen Schneesturm aus Karaganda gen Süd-Ost kämpfte – tief in die kasachische Steppen hinein. Etwa 30 deutschstämmige Familien, die schon einmal 1931 aus dem Wolgagebiet nach Karaganda deportiert, zehn Jahre dort verbrachten und nun abermals enteignet und zwangsweise umgesiedelt wurden. Es folgten noch zwei Konvois. Der dritte Konvoi ist kurz vor Weihnachten, am 22 Dezember eingetroffen. Zehn Tage lang mit Säuglingen in bitterer Kälte unter freiem Himmel auf offenen Schlitten und ständiger Begleitung von Wölfen – das kann man sich heute kaum noch vorstellen. Das Dorf war von den Kasachen frei – die Okkupationsmacht hatte sie zwangsweise in nahe liegende Siedlungen „verfrachtet“. Es blieben vier ukrainische Familien und eine kasachische. Über hundert deutschen Familien, fast alle aus dem Wolgagebiet stammend, und die die Hölle unter dem Namen Karaganda durchgemacht hatten und dort derzeit schon ein angemessenes Leben führten, musste man Unterschlupf gewähren. Jede Familie bekam je nach Größe ein bis drei Zimmer. Der Platz reichte kaum, sich in der Nacht auszustrecken, aber dafür war es warm – jedenfalls wärmer als unter freiem Himmel. Es wurde überwintert. Im Frühjahr mussten Groß und Klein auf die Felder zur Aussaat. Danach begannen die Männer Ställe zu bauen. Anfang Juni, als das Frühlingshochwasser vorbei war, kam das Vieh an, das übrigens unterwegs in einem Dorf überwintern musste.
Ab Ende Juni 1942 begann jedoch die schlechteste Zeit in der jüngsten Geschichte von Karbushevka, denn nahezu alle Männer und junge Frauen, die keine Kinder unter drei Jahren hatten, mussten in Zwangsarbeiterlager. In dem Dorf sind fast nur Frauen und Kinder geblieben. Vier Jahre härteste Arbeit auf dem Felde, beim Vieh, auf dem Bau – bei einer Hitze von über +40 und einer Kälte unter –40 Grad – mit ständigen Gedanken ums Essen für sich und die Kinder – all das kennzeichnete diesen Zeitabschnitt. Viele Kinder sind ohne Eltern zurückgeblieben, die eigentlich dem Hunger und der Kälte zum Opfer hätten fallen müssen. Viele verwaiste deutsche Kinder verdanken dem freundlichen kasachischen Volke die Aufnahme in ihre Familien und folglich die Rettung vor dem sicheren Tod. Obwohl die Entwicklung der Kasachen nach deutschen Verständnis Hunderte von Jahren zurückgeblieben ist, verstanden sich die beiden Völker sehr gut und waren sich auch einig. Wenn eine Hilfe zu den Deutschen gekommen ist, dann ist sie von den Kasachen ausgegangen. Im Grunde genommen war das ja verständlich, den Kasachen wie Deutsche sind von den Russen und pro-russischen Ukrainern gleich unterdrückt worden. Die Situation sollte sich aber innerhalb von nur drei Jahrzehnten gravierend ändern – mit dem Wohlstand distanzierten sich nachfolgende Generationen der Deutschen von den Kasachen und neigten mehr und mehr den Russen zu, ja sie halfen sogar den Russen, die Kasachen zu unterdrücken. Gemischte Ehen mit Kasachen waren nunmehr eine Seltenheit, dafür stiegen diese mit den Russen. Die Kasachen fühlten sich zu Recht verraten und betrogen. In drei Jahrzehnten waren die deutschen fast genauso unbeliebt geworden wie die Besatzer. In 20 bis 30 Jahren erreichten die deutschen in Karbushevka solch einen Wohlstand, wovon Kasachen und Russen nicht zu träumen wagten. Neid, Wut und Hass breitete sich aus. Es ging letztlich so weit, dass sich im Juli 1992 in umliegenden kasachischen Dörfern die Jugend versammelte, um Karbushevka auszulöschen und nieder zu brennen. Dank älterer Generationen, die mit den Deutschen bis zuletzt ein gutes Verhältnis pflegten, wurde die Polizei informiert, die gerade noch rechtzeitig eingreifen konnte. Wäre das nicht der Fall gewesen, der Ausgang wäre wohl ein verheerender und erschütternder geworden.
Ab 1946 durften die in den Zwangsarbeiterlagern am Leben gebliebene Männer und Frauen zu ihren Familien zurück, aber auch von ihnen blieben nicht alle am Leben: einige, von schweren Krankheiten gezeichnet, starben zumeist noch als junge Leute innerhalb weniger Jahre. Trotz allem gab es jetzt im Dorfe Männer und in ein paar Monaten konnten sie schon anpacken. Und sie packten auch an. Die Männer entlasteten die Frauen von Schwerstarbeiten, nebenbei bauten sie neue Samanhäuser für die eigene Familie, was sehr wichtig war, weil die Witwen freistehende Kammern mit einem Durchgang verbinden und einnehmen durften. Die Samanhäuser wurden übrigens von den Deutschen genau auf die bereits oben beschriebene Weise errichtet, nur jetzt mit großen Fenstern und wie von innen so auch von außen mit Salzerde (Weiße Erde) gestrichen. Auf den Erdboden kam nicht mehr Wermut, sondern er wurde mit einer Schicht Lehm abgedichtet und wöchentlich mit frischem Kuhmist festgerieben. Die weiß gestrichene Häuser strahlten Wärme und Behaglichkeit aus und stellten zu den ungestrichenen einen Kontrast her. Das Leben ging allmählich voran. Die Ackerfläche wurde Jahr für Jahr erweitert, es wurden verschiedene Maschinen zugestellt – wie Autos, Traktoren, Dreschmaschinen. Mit der Errichtung eines Sägewerks ist der moderne Bau erst richtig vorangekommen. Jetzt konnte man schon ein Walm - oder Giebeldach errichten, Holzboden verlegen, Fenster - und Türrahmen fertigen, Möbel bauen u.s.w. Es wurde der erste und der bis zuletzt einzige Obst - und Gemüsegarten in der Region angelegt, sowie auch Plantagen mit Rote Beete, Zuckerrüben, Kartoffeln, Wassermelonen. Der Kolchos, damit ist die kollektive Wirtschaft von Familien gemeint, stellte Rindfleisch, Lammfleisch, Schweinefleisch, Milchprodukte, Wolle und Eier her. Das gleiche produzierte jede Familie für ihren eigenen Bedarf in privater Wirtschaft. Für Arbeitseinheiten bekamen Kolchosmitglieder bis zu 90 Prozent Landwirtschaftserzeugnisse, Geld gab es in der Kolchose fast nie. Das Veräußern oder Tauschen von z.B. Kleidung, Geschirr, Möbeln, Elektrowaren, Werkzeug erwies sich als sehr schwierig – die Stadt war 200 Kilometer entfernt, und es gab es ja keine Wege und Transportmittel. Ferner standen die Deutschen bis 1956 unter Kommandantur bzw. Meldepflicht, das heißt für das Verlassen des Kolchosgebiets drohten bis zu 20 Jahre Zuchthaus. In der Landwirtschaft kam es folglich zum Überfluss, an allen übrigen Waren mangelte es. Im Jahr 1958 hatte man im Getreideanbau sogar eine Überproduktionskrise. Tausende Tonnen von Getreide lagen ums Dorf herum und gärten. Bei stillem Wetter und heißen Tagen musste man im Ort einen fast unerträglichen Gestank aushalten. In der Landwirtschaft drohte Stillstand. Die Region musste dringend mit dem Ballungsgebieten verbunden werden. Also wurden schleunigst Wege und Brücken gebaut, so dass nach ein paar Jahren, sogar bei Schneesturm und Überschwemmungen, die Verbindung sicher gestellt wurde. 1966 wurde die Eisenbahnverbindung fertiggestellt. Für die Post und diejenigen die es eilig hatten, hatte man sogar eine regelmäßige und sichere Luftlinie eingerichtet.
1960 wurden offiziell zwei zusätzliche geradlinigen Straßen angelegt. Die Deutschen fingen, auf eine für diese Region völlig neue, unbekannte Art und Weise, an zu bauen. So große helle Häuser unter Walm - oder Giebeldach mit guten Nebengebäuden und Gärten mit Zäunen. Jeder Haushalt pflanzte Bäume, Büsche, Blumen. Das wäre woanders bestimmt eine ganz normale Sache, aber hier war es eine Oase in der Wüste.
1961 wurde der Kolchos in einen staatlichen Betrieb, Sowchose genannt, reorganisiert. Die Arbeiter erhielten für ihre Tätigkeiten von nun an Geld. Ab dem Zeitpunkt war der Weg zu Wohlstand frei. Die Meldepflicht für die Deutschen war bereits abgeschafft worden, Personalausweise konnten beantragt werden und man bekam Geld. Diese drei Faktoren und die gute Verbindung mit der Stadt bedeuteten für die Einwohner von Karbushevka sehr viel, ebenso eine relative Reisefreiheit. Sie konnten in die Stadt einkaufen fahren, und – was sehr wichtig war – die Jugend erhielt die Möglichkeit der Berufsausbildung. Allerdings hatte das auch negative Auswirkungen: Immer mehr junge Leute ließen sich in der Stadt nieder, und zwar mit steigender Tendenz. Rasant wuchs die Einwohnerzahl, also auch die Zahl der Arbeiter. Die Agrarfläche wurde ständig erweitert. 1964 hatte der landwirtschaftliche Betrieb unter dem Namen Sowchos Karkaralinski knapp 25000 Hektar Ackerfläche, er zählte 9000 Kühe und 25000 Schafe. Im gleichen Jahr wurde der Betrieb reformiert und in zwei Betriebe aufgeteilt. Von nun an hatte die Sowchose Karkaralinski nur zwei Zweige – Getreideanbau und Milchproduktion.
Inzwischen baute die Gemeinde eine neue Schule, ein Gemeindehaus, Verwaltungsgebäude, eine große Landmaschinenwerkstatt, einige Viehställe sowie Getreidespeicherhallen. Durch die gute Verbindung mit der Stadt änderte sich auch die Kultur im Dorfe. Immer öfter siedelten sich hier ukrainische und russische Familien an. Armenier, Georgier, Aserbaidschaner, Koreaner als Saisonarbeiter waren ständige Gäste. Wenn bis in die 60er-Jahre noch überall hauptsächlich deutsch gesprochen wurde, so kommt nun mehr und mehr die russische Sprache vor. Die Einführung der deutschen Sprache in der Schule als Muttersprache konnte diesen Prozess ebenfalls nicht aufhalten. Bereits die Generation der Achtziger konnte deutsche Sätze weder sprechen noch verstehen. Wenn überhaupt, so wurde die deutsche Sprache lediglich noch als Haussprache verwendet.
Aber es gab EINEN Ort wo man ausschließlich deutsch sprach - die Kirche. Noch bis in die 60er Jahren versammelten sich die Gemeindeglieder in irgendeinem Privathaus, wo sie heimlich die Bibel lasen und sangen. Ab und zu wurde auch eine Predigt gehalten. Ab den 60er Jahren war es offiziell erlaubt den Glauben auszuüben, obwohl unter ständiger erniedrigender Kontrolle, sozusagen Vormundschaft. Aber das wichtigste war, dass man jetzt ganz offen einen echten Gottesdienst halten konnte. Bis 1975 wurde er reihum in Privathäusern von Gläubigen gehalten. Im Sommer 1975, mit Spendegeldern von allen deutschen Dorfbewohnern, erwarb die Gemeinde einen Bau der als Gotteshaus eingeweiht wurde. Hier wurde jetzt der Gottesdienst nach allen Regeln und Vorschriften der evangelisch-lutherischen Kirche gehalten. Um die Jugend nicht zu „verderben“ wurde seitens der Behörden die Konfirmation nicht erlaubt. Dieses Gotteshaus (als Kirche durfte man es auch nicht einweihen) war bis zuletzt ein Ort der Ruhe, Stille und Ehrfurcht und ein Insel der reinen deutschen Sprache.
Trotz allem blieben die Nachkommen der Mentalität der Vorfahren treu. Dies erkannte man an der Arbeitsweise, am Umgang mit den Menschen, am Verhalten, Geschick, Denken und Handeln.
In den 80er-Jahren war das Dorf von enormen Aufschwung gekennzeichnet. Es wurden noch zwei Straßen angelegt. Abermals wurden eine Schule, ein Kindergarten, eine Landmaschinenwerkstatt, ein Gemeindehaus sowie ein Viehkomplex errichtet. Die Straßen wurden asphaltiert. Und alles, im Hinblick auf dieses Land, geschah auf moderne Weise. Es kam der Wohlstand. Fast jeder Haushalt mit Personen mittleren Alters, ja sogar auch jüngere, besaßen als Luxus einen Personenwagen. Von 250 Personen im Dezember 1941 wuchs die deutsche Bevölkerung auf zirka 2000. Folglich waren die Einwohner auch alle miteinander verwandt. 1989 wanderte die erste Familie nach Deutschland aus. Scharenweise verließen die Deutschen das Dorf in nur wenigen Jahren. Im Jahr 2002 zählte das Dorf keinen einzigen Deutschen mehr, durch die Auswanderung nach Deutschland, ins Heimatland der Vorfahren.
Was bewegte diese Leute ihren Reichtum im wahrsten Sinne zu verschenken, die Gräber der Eltern zu verlassen und sich in die Ungewissheit zu stürzen? Mit Sicherheit kann gesagt werden, dass zum einen die schreckliche Vergangenheit der Sowjetdeutschen, d.h. Terror und Genozid, letztlich niemand vergessen hat. Zum anderen stellte sich jeder mit dem Zerfall der Sowjetunion (UdSSR) die Frage, was als Nächstes kommt, also die Ungewissheit.
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Heute leben in ganz Deutschland verstreut schätzungsweise etwa 2000 Leute, die entweder durch das Wohnen oder die Geburt mit Karbushevka verbunden sind. Dieses Verstreuen, kann man sagen, hat schon die dritte Generation getroffen. Besonders schwer haben es ältere Leute, sprich die ältere Generation, die Ihre Heimat zweimal verlassen mussten – zunächst Russland, dann Kasachstan.
Bei allen, auch bei denen, die mit 10 bis12 Jahren das Dorf verließen, bleiben die endlosen Steppen mit ihrem eigenem Duft, die heiße Sonne, der eiskalte Winter mit viel Schnee, der wunderbare Geschmack und das Aroma von allen Produkten aus dem eigenen Garten und vieles, vieles mehr in ewiger Erinnerung. Und im Unterbewusstsein der ständige Ruf nach Kindergarten - und/oder Schulkameraden, mit denen man aufgewachsen ist und jedes Dorffest gemeinsam gefeiert, jede Trauer gemeinsam durchlebt hat, hinterlässt im Gedächtnis noch lange tiefe Spuren zurück. Heute trifft man sich immer seltener – das Alltagsleben ist schuld daran; es baut immer mehr Hindernisse auf. Letztendlich wird jede Familie ihre eigene Wege gehen und die Geschichte von Karbushevka verdeckt sich mit dem Zeitstaub und geht in Ungewissheit unter.
Alles ist vergänglich, nichts ist ewig.


Auszug aus der BroschĂĽre "Karbushevka. Woher? Wohin?"

Wer sich für diese Broschüre interessierte, der kann sie unter E-Mail heimat@karbushevka.de  bestellen.


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